Warum folgen so viele Kinder dem Beruf ihrer Eltern? Das sagt die Psychologie

Warum so viele Kinder beruflich in die Fußstapfen ihrer Eltern treten

Die Tochter wird Lehrerin wie ihre Mutter, der Sohn übernimmt die Bäckerei vom Vater. Zufall? Genetische Veranlagung für bestimmte Jobs? Keineswegs. Dahinter steckt ein faszinierendes psychologisches Phänomen, das Forscher seit Jahrzehnten beschäftigt und das deine eigene Berufswahl wahrscheinlich stärker beeinflusst hat, als du denkst. Die Mechanismen sind komplex, aber sie lassen sich erklären durch soziale Lernprozesse, familiäre Wertevermittlung und die unsichtbare Macht von Vorbildern.

Unsere Eltern sind nicht einfach nur die Menschen, die uns großgezogen haben. Sie sind auch die ersten Karriereberater, die wir je hatten – ob sie es wollten oder nicht. Die Lektionen, die wir von ihnen gelernt haben, wurden nicht in formellen Gesprächen am Küchentisch vermittelt, sondern durch jahrelanges Beobachten, Zuhören und unbewusstes Aufsaugen ihrer Einstellungen zu Arbeit, Erfolg und Lebenszufriedenheit. Diese frühe Prägung wirkt oft ein Leben lang nach.

Deine Eltern als heimliche Gatekeeper deiner Zukunft

Du wächst auf und siehst jeden Tag, wie dein Vater in seiner Werkstatt arbeitet. Du riechst das Holz, hörst die Geräusche der Werkzeuge, siehst den Stolz in seinen Augen, wenn ein Projekt fertig ist. Oder vielleicht kommt deine Mutter abends nach Hause und erzählt von ihren Patienten im Krankenhaus, von Leben, die gerettet wurden, von der Dankbarkeit der Menschen. Diese Momente sind nicht neutral – sie formen dein Gehirn wie ein Bildhauer den Ton.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat in einer Studie aus dem Jahr 2015 einen Begriff geprägt, der das perfekt beschreibt: Eltern als Gatekeeper. Das bedeutet, dass Eltern durch ihre eigenen Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Netzwerke die Türen zu bestimmten Berufswelten öffnen – oder eben geschlossen halten. Wenn Papa Ingenieur ist, kennst du als Kind wahrscheinlich schon technische Fachbegriffe, bevor du überhaupt in die Schule kommst. Du hast Zugang zu einer Welt, die anderen Kindern völlig fremd ist.

Das ist nicht böse gemeint oder manipulativ. Es passiert einfach. Eltern vermitteln berufliches Wissen quasi nebenbei, durch Gespräche beim Abendessen, durch die Art, wie sie über ihre Arbeit sprechen, durch die Menschen, die sie nach Hause bringen. Dieses familiäre Kapital – ein Mix aus Wissen, Erfahrungen und sozialen Kontakten – erweitert oder begrenzt die Möglichkeitsräume ihrer Kinder erheblich.

Warum wir kopieren, was wir sehen

Der Psychologe Albert Bandura und seine Theorie des sozialen Lernens haben in den 1970er Jahren etwas Revolutionäres gezeigt: Menschen lernen nicht nur durch direkte Belohnung oder Bestrafung, sondern vor allem durch Beobachtung. Kinder funktionieren wie kleine Schwämme – sie saugen Verhaltensweisen, Einstellungen und Werte auf, indem sie einfach nur zuschauen.

Das bedeutet konkret: Wenn du siehst, wie deine Mutter als Anwältin respektiert wird, wie sie Probleme löst, wie sie Anerkennung bekommt, speichert dein Gehirn unbewusst ab: Dieser Beruf bringt Status, Respekt und macht offenbar zufrieden. Du musst dir das nicht aktiv überlegen oder eine Pro-Contra-Liste schreiben. Es passiert automatisch, tief in deinem Unterbewusstsein.

Aber es geht nicht nur um den Beruf selbst. Du lernst auch, wie man mit Stress umgeht, wie wichtig Pünktlichkeit ist, ob man seine Arbeit mit nach Hause nimmt oder nicht, ob Karriere über Familie steht oder umgekehrt. Diese Muster werden Teil deiner Persönlichkeit, ohne dass du es merkst. Sie beeinflussen später deine Erwartungen an Arbeitgeber, deine Definition von Erfolg und sogar deine Work-Life-Balance.

Die unsichtbare Vererbung von Werten und Erwartungen

Forscher sprechen von intergenerationeller Transmission, wenn sie beschreiben, wie Werte, Verhaltensweisen und Orientierungen von einer Generation zur nächsten wandern. Eine Studie aus dem Jahr 2004 hat untersucht, wann diese Übertragung besonders stark funktioniert. Das Ergebnis ist so simpel wie einleuchtend: Emotionale Nähe macht den Unterschied.

Je enger du mit deinen Eltern verbunden bist, je mehr Unterstützung und Wärme du erfahren hast, desto wahrscheinlicher übernimmst du ihre Werte – auch die über Arbeit und Erfolg. Das ist keine Schwäche oder mangelnde Eigenständigkeit. Es ist zutiefst menschlich. Wir wollen die Menschen, die wir lieben, nicht enttäuschen. Wir wollen ihnen zeigen, dass wir ihre Lektionen verstanden haben, dass wir es geschafft haben.

Diese Transmission funktioniert meist subtil. Niemand muss sagen: Du musst auch Ärztin werden. Es reicht, wenn über Jahre hinweg Sätze fallen wie: Bildung ist das Wichtigste im Leben. Oder: Ohne Sicherheit kannst du nicht glücklich werden. Oder: Selbstständigkeit bedeutet Freiheit. Diese Mantras setzen sich fest und lenken deine Entscheidungen, oft ohne dass du es bewusst wahrnimmst. Sie werden zu inneren Kompassnadeln, die dich in bestimmte Richtungen ziehen.

Das unsichtbare Erbe: Soziales und kulturelles Kapital

Hier wird es richtig interessant – und wenn wir ehrlich sind, auch ein bisschen unfair. Eltern geben ihren Kindern nicht nur Werte weiter, sondern auch handfeste Vorteile. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat in einem Kurzbericht aus dem Jahr 2019 herausgefunden, dass Kinder von Eltern mit höherer Qualifikation eine um bis zu zwanzig Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, selbst einen akademischen Beruf zu ergreifen.

Das liegt nicht daran, dass diese Kinder intelligenter sind. Es liegt daran, dass sie von klein auf lernen, wie das Spiel funktioniert. Sie wissen, welche Studiengänge angesehen sind. Sie haben vielleicht schon als Teenager Praktika in spannenden Unternehmen gemacht, weil Mama dort jemanden kennt. Sie verstehen die ungeschriebenen Regeln der Berufswelt, weil sie täglich vorgelebt wurden. Diese unsichtbaren Vorteile summieren sich über Jahre zu einem erheblichen Vorsprung.

Umgekehrt bedeutet das: Kinder aus Familien mit weniger Bildung oder in einfacheren Berufen starten mit einem strukturellen Nachteil. Auch wenn sie das Talent, die Intelligenz und den Willen haben, fehlt ihnen oft das Wissen darüber, wie man bestimmte Türen überhaupt findet, geschweige denn öffnet. Die Berufswahl ist also nie nur eine individuelle Entscheidung – sie spiegelt immer auch die Ausgangslage der Familie wider.

Die Suche nach Anerkennung: Warum wir unsere Eltern stolz machen wollen

Viele Menschen wählen ähnliche berufliche Wege wie ihre Eltern, weil sie unbewusst nach deren Anerkennung suchen. Das klingt vielleicht ein bisschen nach Therapiestunde, aber es ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis. Der Psychologe Erik Erikson hat schon in den 1950er Jahren beschrieben, wie wichtig die Identitätsbildung in der Jugend ist – und wie stark sie mit den Erwartungen unserer wichtigsten Bezugspersonen verknüpft ist.

Wir wollen zeigen, dass wir es geschafft haben. Dass wir ihren Werten gerecht werden. Dass wir Teil der Familiengeschichte sind. Manchmal übersetzt sich das in die Entscheidung, genau denselben Beruf zu ergreifen – nicht unbedingt, weil wir brennend dafür interessiert sind, sondern weil er symbolisch für Verbundenheit steht. Der Beruf wird zu einer Art Liebesbeweis: Schau, ich habe verstanden, was dir wichtig ist. Ich folge deinem Weg.

Das Problem dabei: Manche Menschen merken erst nach Jahren, dass sie eigentlich nie selbst entschieden haben. Sie haben unbewusst einem Drehbuch gefolgt, das jemand anderes geschrieben hat. Und wenn die eigenen Interessen und Talente in eine andere Richtung zeigen, kann das zu echten Krisen führen. Die Erkenntnis, jahrelang den falschen Weg gegangen zu sein, ist bitter – aber sie kann auch der Anfang eines authentischeren Lebens sein.

Warum bestimmte Berufe regelrecht vererbt werden

Es gibt Berufsgruppen, bei denen die Wahrscheinlichkeit der Nachfolge besonders hoch ist. Ärzte, Anwälte, Handwerker, Landwirte – in diesen Feldern sehen wir immer wieder, wie Kinder die Karriere ihrer Eltern fortsetzen. Eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2020 zeigt, dass in handwerklichen Berufen bis zu dreißig Prozent der Kinder den Beruf der Eltern übernehmen.

Warum ist das so? Erstens sind diese Berufe oft mit starken Identitäten verbunden. Ein Arzt zu sein ist nicht nur ein Job – es ist eine Lebensweise, die mit Prestige, Verantwortung und einem klaren gesellschaftlichen Status verknüpft ist. Kinder wachsen nicht nur mit dem Beruf auf, sondern mit einer ganzen Identität. Sie hören von klein auf Geschichten aus dem OP, verstehen die Opfer, die gebracht werden, aber auch die Dankbarkeit und Anerkennung.

Zweitens erfordern diese Berufe oft spezifisches Wissen, das innerhalb der Familie leichter weitergegeben werden kann. Ein Kind aus einer Arztfamilie kennt medizinische Begriffe, versteht das Gesundheitssystem und hat vielleicht schon Kontakte zu Universitäten oder Kliniken. Das ist ein echter Vorteil gegenüber jemandem, der sich alles selbst erarbeiten muss. Drittens gibt es in manchen Familien – besonders bei Selbstständigen – einen direkten ökonomischen Anreiz. Der Familienbetrieb soll weiterleben. Da steckt nicht nur Emotion drin, sondern auch handfeste wirtschaftliche Realität.

Die Rolle von Geschlecht und traditionellen Erwartungen

Auch Geschlechterrollen spielen eine überraschend große Rolle – auch wenn wir im Jahr 2025 eigentlich weiter sein sollten. Die Bundesagentur für Arbeit hat in einer Untersuchung aus dem Jahr 2022 festgestellt, dass traditionelle Erwartungen nach wie vor beeinflussen, welches Kind welchen beruflichen Weg einschlägt. Söhne folgen häufiger den Vätern in technische oder handwerkliche Berufe. Töchter orientieren sich öfter an den Müttern, wenn es um soziale oder pflegerische Berufe geht.

Diese Muster lösen sich langsam auf, aber sie sind immer noch spürbar. Sätze wie Mein Sohn wird bestimmt auch mal Ingenieur oder Du bist so fürsorglich wie ich, vielleicht wirst du auch Krankenschwester klingen harmlos, setzen aber mentale Rahmen. Diese Erwartungen sind oft unbewusst und werden nicht als Druck wahrgenommen – aber sie sind trotzdem da. Sie beeinflussen, welche Praktika gemacht werden, welche Studiengänge in Betracht gezogen werden und letztendlich auch, wie Kinder ihre eigene Identität definieren.

Der Mut zur Abgrenzung: Wenn Kinder andere Wege gehen

Natürlich folgen nicht alle Kinder brav dem elterlichen Pfad. Viele rebellieren, wählen das genaue Gegenteil oder suchen sich völlig neue Felder. Auch das ist ein psychologisches Phänomen: Abgrenzung als Teil der Identitätsfindung. Manchmal ist die Entscheidung, einen anderen Weg zu gehen, sogar eine direkte Reaktion auf das, was man bei den Eltern beobachtet hat.

Wenn du siehst, wie deine Mutter im Lehrerjob ausbrennt, ständig gestresst ist und nie abschalten kann, kann das eine starke Motivation sein, es anders zu machen. Die Berufswahl wird dann zum Akt der Selbstbestimmung: Ich will nicht so enden wie du. Das Problem dabei: Viele Menschen glauben, sie hätten eine völlig freie Entscheidung getroffen, übersehen aber die subtilen Mechanismen, die ihre Präferenzen geformt haben. Auch die Abgrenzung ist eine Reaktion auf die Eltern – nur eben eine negative statt einer positiven. In beiden Fällen bleiben die Eltern der zentrale Bezugspunkt.

Was bedeutet das alles für deine eigene Berufswahl?

Wenn du gerade dabei bist, berufliche Entscheidungen zu treffen – oder wenn du dich fragst, warum du eigentlich im Job gelandet bist, in dem du jetzt steckst – lohnt es sich, einen ehrlichen Blick zurückzuwerfen. Hast du diesen Weg gewählt, weil er wirklich zu dir passt? Oder weil er vertraut ist, weil er Anerkennung bringt, weil er die Erwartungen erfüllt?

Diese Fragen sind unbequem, aber wichtig. Sie helfen dir herauszufinden, ob du dein eigenes Leben lebst oder unbewusst ein Skript abspulst, das jemand anderes geschrieben hat. Und keine Sorge: Es ist nicht schlimm, wenn du merkst, dass deine Eltern einen großen Einfluss hatten. Das ist völlig normal. Die Frage ist nur, ob dieser Einfluss in eine Richtung ging, die dir guttut.

  • Frag dich ehrlich: Welche Werte und Vorstellungen über Arbeit habe ich von meinen Eltern übernommen – und stimmen sie noch mit dem überein, was ich heute will?
  • Mach dir bewusst, ob du deinen Job liebst oder ob er vor allem sicher, vertraut und anerkannt ist.
  • Trau dich, neue Wege zu erkunden, auch wenn sie nicht dem familiären Muster entsprechen.
  • Nutze das Wissen und die Netzwerke deiner Eltern als Ressource, aber lass sie nicht deine einzige Option sein.

Die unbequeme Wahrheit: Berufswahl ist nie nur individuell

Die Forschung zeigt eines ganz klar: Wir sind freier in unseren Entscheidungen, als wir manchmal glauben – aber auch beeinflusster, als uns bewusst ist. Die Tatsache, dass so viele Kinder ähnliche oder identische berufliche Wege einschlagen wie ihre Eltern, ist kein Zufall und auch keine reine Talentvererbung. Es ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus sozialem Lernen, intergenerationeller Transmission von Werten, familiärem Kapital und der tief verwurzelten Suche nach Anerkennung.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat in einer weiteren Untersuchung aus dem Jahr 2019 etwas Bemerkenswertes herausgefunden: Wenn Eltern gefördert werden – zum Beispiel durch Weiterbildungsmaßnahmen oder Arbeitsmarktprogramme – steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder eine betriebliche Ausbildung bekommen oder in Beschäftigung kommen, um bis zu dreizehn Prozent. Das zeigt, wie stark die Lebenswege verschiedener Generationen miteinander verwoben sind.

Diese Erkenntnis ist unbequem, weil sie unserer Vorstellung widerspricht, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Die Wahrheit ist komplizierter: Ja, du triffst Entscheidungen. Aber diese Entscheidungen sind immer eingebettet in einen Kontext, der von deiner Familie, deiner Herkunft und deinen frühen Erfahrungen geprägt wurde. Das zu erkennen ist der erste Schritt, um wirklich selbstbestimmte berufliche Entscheidungen zu treffen.

Wenn du verstehst, welche Mechanismen dich beeinflusst haben, kannst du bewusster entscheiden, welche davon du beibehalten willst und welche nicht. Du kannst die positiven Aspekte – das Wissen, die Netzwerke, die Werte – nutzen, ohne dich von den negativen Aspekten einschränken zu lassen. Und wenn du am Ende doch denselben Beruf wie deine Eltern wählst? Das ist auch völlig in Ordnung. Solange du es aus den richtigen Gründen tust: weil du es wirklich willst, weil es zu deinen Talenten passt, weil es dich erfüllt.

Hast du deinen Beruf gewählt – oder geerbt?
Aus echtem Interesse
Wegen familiärer Erwartungen
Wegen beruflicher Vorbilder
Weil es sich anbot

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